Ein unerfüllter Traum – Die ethische Diskussion rund um IVF

16. Juni 2025
Der Weg in die Klinik des Lindenhofspitals

Ein sehnlicher Wunsch, eine letzte Hoffnung – doch der Weg dorthin ist ein emotionaler Ausnahmezustand, geprägt von Hormonbehandlungen, endlosen Arztbesuchen und der ständigen Angst vor dem Scheitern. Es bleibt zu klären, welche ethischen, emotionalen und finanziellen Herausforderungen den Paaren bevorstehen?

Ein Weg voller Hoffnung

Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Paar und sehnen sich nach einem eigenen Kind. Doch dann die erschütternde Nachricht: Eine Schwangerschaft auf natürlichem Weg ist nicht möglich. Was tun? Der Weg in die Kinderwunschklinik scheint die einzige Hoffnung zu sein. Sie entscheiden sich für eine In-vitro-Fertilisation (IVF) – ein langer, zermürbender Prozess. Drei Jahre voller Hoffen und Bangen, jede Woche in einem schlichten Wartezimmer, die tickende Uhr im Hintergrund, der Geruch von Desinfektionsmitteln vermischt mit Angstschweiss. Jeden Tag, jede Minute im Ungewissen, mit der ständigen Sehnsucht nach der ersehnten Nachricht. Und dann, endlich: Es hat geklappt. Zu Hause halten Sie das Kind im Arm – ein Wunder, möglich dank IVF. Doch wie genau funktioniert diese Methode? Welche ethischen Bedenken wirft sie auf? Diesen Fragen geht diese Reportage mithilfe von drei verschiedenen und spannenden Interviews gründlich auf die Spur.

In-Vitro-Fertilisation 

In-Vitro-Fertilisation ist eine häufig angewandte Methode der künstlichen Befruchtung. „In vitro“ bedeutet „im Glas“, denn bei der IVF findet die Befruchtung im Reagenzglas statt. Dafür werden der Frau Eizellen entnommen. Vorher unterzog sich die Frau einer Art Stimulation der Eizellreifung mit hormoneller Unterstützung, sodass mehrere Follikel gleichzeitig zum Wachstum angeregt werden können. Sind die Follikel reif, wird der Eisprung mit einer hCG-Injektion ausgelöst und die Eibläschen werden ungefähr 36 Stunden später aus den Eierstöcken entnommen. Nun kommt auch der Samenspender bzw. der Vater zum Einsatz und muss seine Samenprobe dem IVF-Labor zur Verfügung stellen. Die Spermien werden dort entsprechend für die Befruchtung vorbereitet. Danach werden die Eizellen und die Spermien in einem Brutschrank unter Bedingungen, die der Natur sehr nahekommen mit einer speziellen Flüssigkeit, dem sogenannten Kulturmedium, in Kontakt gebracht und werden für zwei bis fünf Tage kultiviert. Die Befruchtung der Eizellen sollte bereits 18 Stunden nach der Insemination (Samenübertragung) erfolgt sein. Wenn ein oder mehrere Embryonen herangewachsen sind, findet der wichtigste Teil der IVF statt: Ein Embryo wird zurück in die Gebärmutter der Frau eingepflanzt. Nach dem Transfer bleibt die Hoffnung, dass alles gut verläuft und der Embryo zu einem Kind heranwächst. Es kann jedoch vorkommen, dass es nach dem ersten Zyklus nicht funktioniert und mehrere Versuche nötig sind. Dabei steigen die Erfolgschancen mit jedem weiteren Versuch.  Falls mehrere Embryonen herangereift sind, können diese eingefroren werden und gemäss dem Schweizer Fortpflanzungsmedizingesetz bis zu zehn Jahren aufbewahrt werden.

Erfolg, Misserfolg und die emotionale Achterbahnfahrt

Die psychischen und körperlichen Belastungen während der IVF-Durchführungen sind nicht zu unterschätzen. Eine Studie eines Wissenschaftlerteams aus Boston berichtet, dass 72 % der untersuchten 45 Paare unter psychischen Belastungen, während der IVF litten. Auch Gynäkologin Irène Dingeldein seufzt und sagt: «Ich sehe nicht selten körperliche Folgen bei meinen Patientinnen, wie zum Beispiel Schlafstörungen, panische Attacken aber auch Stress in der Partnerschaft oder leichte Depressionen.» Es ist nicht ganz korrekt zu sagen, dass die Erfolgsrate durchschnittlich nur bei 30% liegt. Das Alter der Frau und die individuelle Gesundheitssituation spielen eine wesentliche Rolle. Ein höheres Alter geht mit einer geringeren Eizellqualität einher. Zudem lassen sich im höheren Alter weniger Eizellen gewinnen. So sinkt die IVF-Erfolgsrate mit zunehmendem Alter sehr schnell ab. Unter günstigen Bedingungen kann jedoch eine junge gesunde Frau beim ersten Zyklus schwanger werden. Ist die Frau jedoch 38 Jahre oder älter, braucht es fast immer mehrere Zyklen. Man kann grundsätzlich sagen, dass nach drei bis vier Zyklen die Moral sinkt, sofern das Paar überhaupt noch weiter macht. Mehrere Durchläufe sind sicherlich ein grosser Stressfaktor. Deshalb ist es wichtig, dass das Paar vor den IVF-Durchläufen gut informiert ist und sich der Probleme, die währenddessen auftreten können, bewusst ist. Letztendlich liegt die Entscheidung bei den Eltern, und niemand kann ihnen vorschreiben, ob sie dieses Maß an Leid und Belastung ertragen können, fügt der Medizinethiker Prof. Müller mit geübter Klarheit hinzu. Deshalb ist es umso wichtiger, dass die Paare eine psychologische Beratung während der Behandlungszeit in Betracht ziehen.

"Der Kinderwunsch ist so stark, dass die Frau psychische und physische Belastungen einfach ausblendet. Man nimmt es in Kauf."

Embryonenselektion: Wenn Wissenschaft auf moralische Grenzen trifft

Die Selektion beginnt, lange bevor ein Kind geboren wird. Bei der In-vitro-Fertilisation (IVF) entstehen oft mehrere Embryonen – doch nicht alle dürfen sich weiterentwickeln. Die Entscheidung, welche eingesetzt werden, ist eine Gratwanderung zwischen Medizin, Ethik und den Wünschen der Eltern. Wie viele Embryonen eingesetzt werden, hängt von den gesetzlichen Vorgaben der einzelnen Länder und der Zustimmung der Eltern ab. Prof. Müller äußert analytisch: „Die Selektion kann grundsätzlich vertretbar sein, da ich finde, dass es von den Kriterien abhängt.“ Damit meint er: Es kommt darauf an, warum selektiert wird und welche Zwecke und Ziele hinter der Selektion stehen. Soll eine schwere Erbkrankheit verhindert werden? Oder geht es um eine gesellschaftliche Norm, die bedient werden soll? Die Präimplantationsdiagnostik (PID) ermöglicht es, Embryonen auf genetische Auffälligkeiten zu untersuchen. Dies erlaubt, schwere Erbkrankheiten sowie Anomalien der Chromosomen frühzeitig zu erkennen. Doch wo zieht man die Grenze? Die PID macht auch die Wahl des Geschlechts sowie die Erkennung bestimmter erblicher Eigenschaften des Kindes möglich – eine Option, die für Prof. Müller nur unter bestimmten Umständen vertretbar ist. Er betont nachdenklich: „Basiert die Auswahl jedoch auf sexistischen Einstellungen oder auf gesellschaftlichem Kontext, halte ich dies für problematisch, weil es zu gesellschaftlichen Konflikten führen könnte. Bei der Familienplanung ist der Medizinethiker jedoch nur teilweise skeptisch, da er nachvollziehen kann, dass sich Eltern nach drei Söhnen noch eine Tochter wünschen und dies durch die PID ermöglicht wird. Doch wenn bereits das erste Kind eine „richtige“ Geschlechtszuordnung erfüllen soll? Das bleibt ethisch fragwürdig. Man kann die Selektion auch rein medizinisch durchführen. Dabei geht es um das Potenzial, das ein Embryo hat. „Man kann Embryonen nämlich in verschiedene Grade einteilen, die angeben, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass sich daraus ein Baby entwickelt“, so Dr. Fink fachlich. Die besten Chancen bekommen die stärksten Embryonen – eine Auswahl, die Leben ermöglicht, aber auch Leben ausschließt.

Neu mit Präimplantationsdiagnostik seine eigenen Kinder gestalten!

Bereits erwähnt wurde, dass die Präimplantationsdiagnostik ein Hilfsmittel ist, das einst Undenkbares realisierbar macht. Was vor wenigen Jahrzehnten noch Science-Fiction war, ist heute Realität: Eltern könnten theoretisch nicht nur das Geschlecht ihres Kindes bestimmen, sondern auch Augenfarbe, Haarstruktur – ja, vielleicht sogar Intelligenz. Ist das noch ein medizinischer Fortschritt oder schon eine perfide Form der Selektion. Die Vorstellung, dass die Gesellschaft der Zukunft nur noch aus perfekten, makellosen Menschen besteht, hat etwas Beängstigendes. Es klingt ganz danach, als könnten Eltern bald ihre zukünftigen Kinder selbst designen. So verlockend es klingt, ein Kind mit den besten genetischen Voraussetzungen zu bekommen – die ethischen Bedenken wiegen schwer.

Jedoch liegt die PID in der Schweiz noch in weiter Ferne. Hier bei uns gibt es strenge Richtlinien, wann und wie sie eingesetzt werden darf. Grundsätzlich ist die PID zur Untersuchung auf schwere genetische Krankheiten und zur Chromosomenanalyse erlaubt, um Fehlgeburten oder schwere Erkrankungen frühzeitig zu erkennen. In den USA hingegen sind die Regelungen einer IVF- oder PID-Behandlung deutlich lockerer, da es keine einheitlichen Gesetze gibt. Beispielsweise ist eine Geschlechtsselektion dort oftmals erlaubt.

«Dass man die Forschung grundsätzlich verbietet, glaube ich, hat sehr grosse Kosten in Hinblick auf die Möglichkeit einer Therapie von Schwererkrankungen.»Tötung eines potenziellen Lebens?

Tötung eines potenziellen Lebens?

Bei der zweiten Selektion, wenn es darum geht, der Frau die Embryonen in die Gebärmutter einzusetzen, stellt sich die hitzige Frage, welche Embryonen des Lebens würdig sind und welche nicht. Doch wer trägt diese Verantwortung und wer sollte eine solche Entscheidung fällen? Wenn es um technische Fragen geht, liegt es nahe, dass der Mediziner am besten abschätzen kann, welche Embryonen am überlebensfähigsten sind. Trotzdem betont Prof. Müller einfühlsam: «Ein grosser Teil der Entscheidung sollte auch bei den Eltern liegen, denn sie teilen dasselbe Ziel.» Doch was passiert mit den restlichen Embryonen? Häufig werden sie vernichtet, gespendet oder für Forschungszwecke genutzt. «Diese Embryonen sind in vielerlei Hinsicht wertvoll, schliesslich verfügen sie über ein potenzielles Leben.» Deshalb, so der Medizinethiker, sei eine Spende naheliegender als eine Vernichtung. Auch für die Forschung seien solche Embryonen von grossem Wert – beispielsweise zur Erforschung schwerer Krankheiten wie Alzheimer. In diesem Fall würde vieles dafürsprechen, sie für wissenschaftliche Zwecke zu nutzen, anstatt sie ungenutzt zu vernichten. Denn «Embryonen in der Petrischale haben nicht denselben moralischen Status wie ein geborener Mensch», gab Prof. Müller zu bedenken. Die Frage steht unausgesprochen im Raum. Wer eine Abtreibung für vertretbar hält, müsste dann nicht auch die Selektion in der IVF befürworten? Ein Gedanke, der im Gespräch unerwartet aufkommt – und hängen bleibt. Schliesslich befinden sich Embryonen bei einem Schwangerschaftsabbruch in einem weit fortgeschrittenen Stadium. Warum also nicht bereits vorher entscheiden? Warum nicht Embryonen für die Forschung spenden, statt sie zu vernichten? Doch wo zieht man die Grenze? Die Wissenschaft macht Fortschritte, doch nicht alles, was möglich ist, sollte auch getan werden.

Wenn Geld über den Kinderwunsch entscheidet

In der Schweiz und in vielen anderen Ländern wird die IVF nicht von der Krankenkasse übernommen und muss aus eigener Tasche bezahlt werden. IVF ist teuer – meist kostet ein Zyklus 5’200 Franken. Dazu kommen noch Ausgaben für Medikamente, die Anästhesie und die Kryokonservierung (Einfrieren der Embryonen). Ein fixer Preis? Den gibt es nicht. Die genauen Kosten können von Patientin zu Patientin variieren. Doch wie viele Versuche braucht es, bis der Traum von einem Kind wahr wird? Laut Dr. Fink spielt das Alter eine entscheidende Rolle. Je älter die Frau, desto rund länger das Warten, desto höher die Rechnungen – und desto mehr Stunden in den Klinikräumen, mit Blick auf die immer gleichen farbigen Stühle und verblassenden Hoffnung. Jede Behandlung ist ein kostspieliges Experiment. In Belgien werden sechs Zyklen von der Krankenkasse finanziert, was nicht nur den finanziellen Druck, sondern sicherlich auch einen Teil der psychischen Belastung verringert. In Ländern ohne solche Regelungen führt die hohe finanzielle Hürde jedoch dazu, dass sich nur wohlhabendere Paare eine IVF leisten können. Dadurch entstehen soziale Ungleichheiten, da finanzielle Möglichkeiten darüber entscheiden, wer Zugang zu dieser Behandlung hat und wer nicht. Trotzdem betont Frau Dr. Dingeldein erklärend: «Der Kinderwunsch ist stark genug, dass man alles in Kauf nimmt.», denn viele Paare empfinden den Leidensdruck als zu gross und setzen alles daran, ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Lieber verzichten sie auf Ferien oder teure Restaurantbesuche, als diesen Traum aufzugeben. Eine nationale Adoption wäre zwar oft günstiger, doch solange die Möglichkeit besteht, ein eigenes Kind zu bekommen, ist sie für viele keine Option.

Hoffnung oder Spiel mit dem Leben?

Die IVF bietet vielen Paaren die Chance auf ein eigenes Kind, bringt jedoch zahlreiche ethische Herausforderungen mit sich. Wie weit darf eine Selektion von Embryonen gehen? Wie viel halten Körper und Psyche aus? Und wie fair ist eine Behandlung, die sich nicht alle leisten können? Letztendlich bleibt es eine Entscheidung, die jedes Paar für sich treffen muss. Die Unterstützung durch psychologische Beratung und transparente ethische Leitlinien ist dabei unverzichtbar. Ist IVF also ethisch vertretbar? Diese Frage lässt sich nicht abschließend beantworten. Doch es zeigt sich immer wieder: Der Wunsch nach einem eigenen Kind ist oft stärker als jede Hürde.